
Ich stehe weltanschaulichen Strömungen skeptisch gegenüber, insbesondere jenen, die sich mit „-ismen“ beschreiben lassen. Schon deren vereinfachte Zusammenfassungen – meist auf Plakate reduzierbar – haben mir stets Unbehagen bereitet. Warum? Weil ich zu oft erlebt habe, wie ursprünglich gute oder komplexe Ideen im Laufe der Zeit durch ihre eigenen Vertreter verfremdet wurden. Bis sie schließlich zu Kampflosungen mutierten, plakatfähig wurden – und ihr Gegenteil verkörperten. Nicht weltoffen, nicht gut
Ich bin nicht geschaffen für das alles entwertende „Entweder-oder“, für ein Denken in starren Gegensätzen wie „dafür oder dagegen“. Diktaturen lauern überall – nicht nur im Sozialismus.
Passend dazu begleitet mich seit Jahrzehnten ein schmales Gedichtbändchen von Heinz Kahlau: „Lob des Sisyphus“. Erstaunlicherweise passen viele seiner Zeilen zu jeder Zeit. Sie mahnen zur Geduld und erinnern mich an das Entstehen und Vergehen von Ideen – auch am heutigen Ersten Mai.
Unter jeder
hoffnungsvollen Idee
sammeln sich
Märtyrer und Heilige,
Alleswisser
und Pragmaten,
kleine Gauner und
große Schurken,
Pflichtbesessene und
Pflichtvergessene,
Wahrsager,
Rechthaber,
Vorschreiter,
Mitläufer und
sehr viele Leute –
die einfach da wohnen.
In diesem Sinn, eine kleine Erinnerung an ein Transparent aus dem Jahre 76, als freche Parolen noch verhaftungswürdig waren. In diesem Fall hing das Transparent an einem Jenar Balkon. „Wie jedes Jahr zum 1. Mai sind wir für Losung Nr. 2“. („Proletarier aller Länder vereinigt euch.“) Nur ein knappes Jahr später durften sich der Transparentmaler und einige seiner Freunde zwangsweise wiedervereinigen. Sie wurden nach West-Berlin ausgewiesen.
Also: Ein Hoch auf die Freiheit der Meinungsäußerung!
